Annemarie Fajardo im Interview

Healthcare Change-Pioniere – Annemarie Fajardo spricht im Interview mit Janine Müller-Dodt über die Schritte zur Gestaltung der dringend notwendigen menschzentrierten Pflege.

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Im Interview berichtet Annemarie Fajardo über die grundsätzliche Haltung zur Pflege in Deutschland. Sie zeigt Ansätze und die wichtigen Schritte auf, die jetzt geboten sind, um die für die Zukunftsversorgung dringend notwendige menschzentrierte Pflege zu gestalten.

Annemarie Fajardo ist staatlich geprüfte Altenpflegerin, Diplom-Pflegewirtin und Wirtschaftspsychologin und blickt auf eine langjährige leitende und beratende Tätigkeit im Gesundheits- und Sozialwesen zurück. Heute ist sie Unternehmensberaterin im Gesundheitswesen und Pflegepionierin bei der Care Pioneers GmbH. Als stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands Pflegemanagement und als Vizepräsidentin des Deutschen Pflegerats setzt sich Annemarie Fajardo aktiv dafür ein, dass die Pflege in Deutschland für alle Beteiligten besser gestaltet wird. Ein zentrales Element der zukunftsorientierten Pflege ist die Professionsweiterentwicklung und genau deshalb fördert Annemarie Fajardo in ihren ehrenamtlichen Funktionen die Nachwuchskräfte im Pflegemanagement und die Kolleginnen und Kollegen, die sich berufspolitisch für die professionelle Pflege einsetzen wollen. Auch an den Hochschulen teilt sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit den Studierenden, die sich akademisch im Bereich der Pflege weiterqualifizieren. Sie sagt, dass sie in all diesen Bereichen auf sehr pflegeinteressierte Menschen treffe, die aus unserer Gesellschaft eine Gesellschaft entstehen lassen wollen, die sich im besonderen Maße professionell und fachspezifisch für hilfs- und pflegebedürftige Menschen einsetzt. Ihrer Vision folgend, eine menschzentrierte Pflege- und Gesundheitsversorgung aufzubauen, gründete Annemarie Fajardo gemeinsam mit Expertinnen und Experten der Pflege- und Gesundheitsbranche im Jahr 2021 das Institut für Pflege, Altern und Gesundheit.

Frau Fajardo, welche grundsätzliche Haltung zur Pflege nehmen Sie in Deutschland wahr und was bedeutet das für die Zukunftsversorgung?

Annemarie Fajardo: Die berufliche Pflege zur pflegefachlichen Versorgung von kranken Menschen und Menschen mit Pflegebedarf wird in unserer Gesellschaft in der Regel als selbstverständlich wahrgenommen. Wird ein Mensch pflegebedürftig, der sich zum Beispiel zum Zeitpunkt der Feststellung einer Pflegebedürftigkeit im Krankenhaus befindet, greift per Rechtsgrundlage die Pflegeversicherung. Zur Unterstützung des Menschen mit Pflegebedarf und vor allem zur Unterstützung des dazugehörigen pflegenden Angehörigen können dann Leistungen den Pflegegraden eins bis fünf entsprechend abgerufen werden. Durch diese Möglichkeiten wirkt zwar die Pflegeleistung, die über die Pflegeversicherung finanziert wird, wie selbstverständlich, allerdings merken heutzutage sehr viele pflegende Angehörige, dass Kapazitäten von ambulanten Pflegediensten oder stationären Pflegeeinrichtungen nicht (mehr) in der Form vorhanden sind, wie sie eigentlich gebraucht werden.

Im Gespräch mit pflegenden Angehörigen erfahre ich häufig, dass sie von Pflegeheimen oder von ambulanten Pflegediensten abgelehnt werden, weil entweder keine freien Heimplätze vorhanden sind oder das Pflegepersonal bereits vollständig ausgelastet ist. Das Angebot an pflegefachlichen Leistungen, die aufgrund zunehmender Multimorbidität und Hochaltrigkeit immer mehr gefragt sind, ist stärker denn je begrenzt. Als Gesellschaft machen wir uns dieses begrenzte Angebot des Pflegemarktes nur sehr selten bewusst.

Üblicherweise entsteht ein Bewusstsein erst dann, wenn man entweder als pflegebedürftiger Mensch oder als pflegender Angehöriger selbst betroffen ist. Häufig wirkt es so, dass das Erkennen dieser Begrenztheit viel zu spät eintritt, denn die Situation, in der sich viele dann plötzlich aufgrund einer schweren Erkrankung oder zunehmenden Pflegebedürftigkeit befinden, kann nicht ohne Weiteres verändert werden: weder die eigene Situation, mit der Pflegebedürftigkeit und den Einschränkungen des eigenen Körpers oder des Geistes umgehen zu können, noch die Situation der beruflich Pflegenden ändern oder gar verbessern zu können. „Es muss doch jetzt jemand sofort für mich und meine pflegebedürftige Mutter Zeit haben!“ heißt es dann oft in der ambulanten oder stationären Pflegepraxis von den Angehörigen. Dass es jedoch vorgegebene bzw. verhandelte Personalschlüssel gibt, die sich dann nicht ad hoc verändern lassen und schon gar nicht aus der Perspektive des Pflegebedürftigen oder seines Angehörigen, kann in der konkreten Pflegesituation nicht erkannt und meistens auch nicht von den Pflegediensten so erklärt werden, dass Angehörige und die pflegebedürftigen Menschen diese unüberwindbare Situation unmittelbar verstehen und in der Folge alleine bewältigen können.

Als Gesellschaft können wir in unserem von Hochleistung und Konsum geprägten Alltag wenig mit Einschränkungen anfangen. Treten wir politisch für etwas ein, dann meistens aus persönlichen Gründen, denn dann gibt es offenbar erst einen Anlass dazu. Da sich die Situation, insbesondere für die pflegenden Angehörigen, in den letzten fünf Jahren massiv verschlechtert hat, sind verschiedene Bewegungen entstanden, wie etwa die Gründung von Verbänden zur Interessenvertretung von pflegenden Angehörigen oder auch die stärkere Lobbyarbeit der Patientenvertreterinnen und -vertretern.

Aufgrund des demographischen Wandels wissen wir heute, dass sich die Situation für Menschen mit Pflegebedarf und für ihre pflegenden Angehörigen weiter verschärfen wird. Sie werden zukünftig noch mehr auf sich allein gestellt sein, da der Bedarf an beruflich Pflegenden weiter zunehmen wird und gleichzeitig die Ausbildungszahlen und auch das Angebot an Heimplätzen und ambulanten Angeboten nicht synchron mitwachsen kann, z. B. weil es inzwischen zu wenige Pflegefachpersonen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Es wird zukünftig also stärker denn je erforderlich sein, für seine Interessenlagen politisch einzutreten – und vielleicht unterstützt dieser politische Einsatz dann auch die Berufsgruppe der beruflich Pflegenden und die Situation von zukünftig pflegebedürftigen Menschen.

 

„Das Angebot an pflegefachlichen Leistungen, die aufgrund zunehmender Multimorbidität und Hochaltrigkeit immer mehr gefragt sind, ist stärker denn je begrenzt. Als Gesellschaft machen wir uns dieses begrenzte Angebot des Pflegemarktes nur sehr selten bewusst.“

 

Das Thema Pflege ist eine gefühlt ewige Baustelle. Welche Ansätze braucht es aus Ihrer Sicht, damit wir in Deutschland die für die Zukunftsversorgung dringend notwendige menschzentrierte Pflege sicherstellen können?

Zunächst einmal muss das Bewusstsein in unserer Gesellschaft stärker werden, dass die Gesundheitsfürsorge und Daseinsvorsorge unmittelbar und überwiegend primär von den beruflich Pflegenden ausgeht und auch gestaltet wird – gemeinsam mit dem ärztlichen Fachpersonal. Ist das Bewusstsein gestärkt, könnte auch die Politik anders agieren und beispielsweise weitere oder auch andere finanzielle Mittel, wie etwa Steuermittel oder auch andere staatliche Subventionen, zur Verfügung stellen.

Seit ungefähr zwei Legislaturperioden sprechen sich einige Berufsverbände für eine Bürgerversicherung aus, in die alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland einzahlen sollen. Denn die Pflegeversicherung ist nur eine Teilkaskoversicherung, die derzeit rund fünf Millionen Menschen mit Pflegebedarf finanziell unterstützt. Allerdings muss ein inzwischen sehr hoher Eigenanteil selbst finanziert werden, um die volle pflegerische Leistung zu erhalten. Im Bundesdurchschnitt liegt der Eigenanteil derzeit bei insgesamt 2.149 Euro im Monat (PKV-Verband 2021). Und im Krankheitsfall werden Menschen mit Pflegebedarf zusätzlich noch über die Krankenversicherung abgesichert. Derzeit zahlen in die gesetzliche Krankenversicherung nur 73 Millionen Bürgerinnen und Bürger und in die private Krankenversicherung ungefähr sieben Millionen Menschen in Deutschland ein. Hinzu kommen noch Beamtinnen und Beamte, die über den Staat versichert sind.

Es braucht eine andere Haltung von Gesellschaft und Politik sowie eine andere Finanzierungsstruktur und es braucht noch vielmehr einen grundsätzlich anderen Versorgungsansatz, der in den Kommunen verankert sein sollte. So sollte beispielsweise die Community Health Nurse, eine akademisch ausgebildete Pflegefachperson mit einem abgeschlossenen Master-Studium, in kommunale Strukturen eingebettet werden, um Menschen sowohl präventiv wie auch medizinisch-pflegerisch versorgen und behandeln zu können.

Aufgrund des demographischen Wandels müsste die pflegerische Versorgung insbesondere für ältere und multimorbide Menschen sowie für Kinder und Jugendliche mit Pflegebedarf stärker in einem größeren kommunalen Netzwerk, beispielsweise im Zuge von Quartiersentwicklung, verankert sein, um von den Synergien der Nachbarschaft bzw. der Gemeinde profitieren zu können. Niedrigschwellige Hilfsangebote, wie etwa das Einkaufen von Lebensmitteln, die Organisation von Medikamenten oder Hilfsmitteln oder auch die Rezeptbestellung für die nächste physiotherapeutische Anwendung könnten schnell und zielgenau organisiert werden. Auch die sogenannte Nachbarschaftshilfe könnte durch akademisch ausgebildete Pflegefachpersonen weiterentwickelt werden, um gegenseitige Hilfestellung und die erforderliche medizinisch-pflegerische Versorgung optimal sicherzustellen. Mit den heutigen Versorgungsstrukturen werden wir in 10 bis 20 Jahren den jetzt bereits eingetretenen Anforderungen nicht mehr gerecht werden können.

 

„Zunächst einmal muss das Bewusstsein in unserer Gesellschaft stärker werden, dass die Gesundheitsfürsorge und Daseinsvorsorge unmittelbar von den beruflich Pflegenden ausgeht und auch gestaltet wird – gemeinsam mit dem ärztlichen Fachpersonal.“

 

Welche wichtigen Schritte sind jetzt geboten, damit diese zukunftsorientierte Versorgung im Zuge von Quartiersentwicklung und Nachbarschaftshilfe gestaltet werden kann?

Um optimale Versorgungsstrukturen im Quartier und in der Nachbarschaft entwickeln zu können, brauchen wir zum einen die Weiterentwicklung der professionellen Pflege in Richtung Vollakademisierung und zum anderen die Stärkung der Kommunen zur Unterstützung der Menschen mit Hilfs- und Pflegebedarf. Die bisher eingeführte generalistische Pflegeausbildung und damit verbunden die primärqualifizierenden Bachelorstudiengänge sind in diesem Kontext bereits sehr gute Schritte in die richtige Richtung – auch wenn es hier und da noch Konstruktionsfehler gibt, die ausgebessert werden müssen. Grundsätzlich müssen sowohl die Ausbildung wie auch das Studium auf die zukünftigen Veränderungen ausgerichtet werden – inhaltlich wie strukturell.

Die Aspekte von Quartiersversorgung, Nachbarschaftshilfe, niedrigschwelligen Hilfsangeboten und interdisziplinärer Sorgearbeit müssen selbstständig aufgegriffen werden können, ohne Gefahr zu laufen, in alten Versorgungsstrukturen – also ambulanten, teilstationären oder vollstationären Pflegediensten – zu verweilen. Wichtig dabei ist, dass insbesondere die angebotenen Studiengänge so finanziert sind, dass sie der Vergütung der Pflegeausbildung entsprechen. Bisher ist es nämlich noch so, dass die Studienplätze zwar vorhanden sind, jedoch Studierende in die Ausbildung wechseln, weil sie für den praktischen Einsatz keine Vergütung erhalten. Insofern braucht es kurzfristig eine Vollakademisierung des Pflegeberufes analog zu den Hebammen und zum medizinischen Fachpersonal.

Darüber hinaus benötigen die Kommunen eine finanzielle Unterstützung zur Förderung und Etablierung von Community Health Nurses sowie für ihren Einsatz notwendigen Versorgungsstrukturen, die auch die Abrechnung von pflegerischen Leistungen im Quartier mit den Pflegekassen ermöglichen, wofür in erster Linie berufs- und leistungsrechtliche Grundlagen geschaffen werden müssen. Bund und Länder müssten demnach neuere Pflegeansätze in den Kommunen durch neue rechtliche Regularien auf den Weg bringen, sodass Kommunen eine entsprechende Handhabung erhalten. Bisher ist die Versorgung zumeist über die ambulanten Pflegedienste und die niedrigschwellige Beratung in Tagespflegen und stationären Pflegeeinrichtungen verankert, die jedoch stark von der jeweiligen Region und Marktsituation abhängig ist.

 

Wie stellen Sie sich die künftige Gesundheitswirtschaft und die Zusammenarbeit der Akteure vor?

Aus der Perspektive des Pflegeberufes besteht nach wie vor der Wunsch, mit anderen Akteuren in der Gesundheitswirtschaft auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Auf Augenhöhe bedeutet in diesem Fall, eine gleichwertige Anerkennung durch Gesellschaft und Politik zu erhalten, wie beispielsweise den Pflegebonus während der Corona-Pandemie: Es wurde zwar geklatscht für die beruflich Pflegenden – auch im Bundestag – und es wurden auch Prämien ausgezahlt, die eine gewisse Anerkennung suggerieren sollten. Bonuszahlungen führen allerdings nicht unmittelbar zu einer verbesserten Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sondern erst die Veränderung von rechtlichen Strukturen, die zu einer Beteiligung und Mitbestimmung von beruflich Pflegenden führen.

So gibt es zum Beispiel Strukturen der Selbstverwaltung im Gesundheitssystem, in denen die Berufsgruppe der Pflegenden bisher keine Rolle gespielt haben. Viele Richtlinienbeschlüsse oder etwa auch Gesetzesänderungen finden ohne die konkrete Beteiligung und Mitbestimmung der beruflich Pflegenden statt. Und das aus einem ganz einfachen Grund: Es gibt keine gesetzlichen Grundlagen für die konkrete Mitbestimmung.

Der Aufbau von eigenen Kammern zur Förderung der pflegerischen Selbstverwaltung im Gesundheitssystem war in den letzten 20 Jahren nur eine Maßnahme von vielen notwendigen Maßnahmen, um die Profession der beruflich Pflegenden weiterzuentwickeln. So konnte in Rheinland-Pfalz erstmalig eine Kammer für die Pflegefachpersonen errichtet werden, gleichzeitig wurden jedoch in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein die errichteten Pflegekammern wieder abgewickelt.

Auf der einen Seite wünscht sich diese Berufsgruppe eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, gesellschaftliche Anerkennung und höhere Löhne. Auch andere Berufsgruppen in der Gesundheitswirtschaft, wie etwa die Ärztinnen und Ärzte, wünschen sich eine Weiterentwicklung der Profession, jedoch zeigt sich auf der anderen Seite, dass grundlegende rechtliche Veränderungen in der Selbstverwaltung bisher nicht erwünscht sind.

So sind es zum Beispiel Beteiligte von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden oder auch von Parteien auf Bundes- oder Landesebene, die diese Professionsweiterentwicklung blockieren und etwa die Rückabwicklung der Pflegekammern eingeleitet haben. Für die beruflich Pflegenden ist es demnach fast nicht zu schaffen, in diesem etablierten System eigene und vor allen Dingen neue Strukturen zur Verbesserung der Systemlandschaft herbeizuführen. Dafür braucht es eine starke Lobby, die diesen Veränderungswillen unterstützen kann.

Jedoch muss man dazu sagen, dass Pflegefachpersonen nicht unbedingt politisch sozialisiert sind, sodass andere Interessen immer noch deutlich stärker ins Gewicht fallen als die eigenen persönlichen Interessen in beruflicher Hinsicht. Und vor dem Hintergrund der rückabgewickelten Pflegekammern ist natürlich zu hinterfragen, wie andersartig die Weiterentwicklung dieser Berufsgruppe und damit verbunden die Optimierung der pflegerischen Versorgungsqualität vonstattengehen soll, wenn nicht über eine eigene Selbstverwaltungsstruktur.

 

„Um optimale Versorgungsstrukturen im Quartier und in der Nachbarschaft entwickeln zu können, brauchen wir zum einen die Weiterentwicklung der professionellen Pflege in Richtung Vollakademisierung und zum anderen die Stärkung der Kommunen zur Unterstützung der Menschen mit Hilfs- und Pflegebedarf.“

 

Welches sind die Gründe, warum die Berufsgruppe der Pflegenden nicht politisch ist?

Die Pflegenden selbst sind nicht in der Form sozialisiert, dass von Anbeginn der Ausbildung eine politische Ausrichtung vermittelt oder auch als notwendig erachtet wird. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen gibt es Verbände der Arbeitgeber, wo Pflegedienste bereits politisch gut organisiert sind und daher kein Anlass besteht, als Pflegefachpersonen zusätzlich selbst noch für den eigenen Berufsstand politisch aktiv zu werden. Zum anderen gibt es auch Gewerkschaften, bei denen zwar Pflegefachpersonen vereinzelt Mitglied sind und sich im Kern um Tarifpolitik der Pflegenden bemühen, jedoch keine berufsständische Ausrichtung im Sinne der Selbstverwaltung forcieren.

Erkennen kann man an diesen Strukturen, dass zum Beispiel höhere Löhne notwendig erscheinen oder etwa auch bessere Arbeitsbedingungen im Sinne von mehr Urlaubstagen oder eben auch zusätzlichen Vergütungszuschlägen, zum Beispiel bei Wochenenddiensten oder Diensten an Feiertagen. Zudem erschien es bisher ausreichend gewesen zu sein, dass Positionspapiere, Stellungnahmen oder weitere Formate, wie etwa offizielle Forderungen an die Politik mithilfe von Petitionen, von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden oder auch Berufsverbänden entwickelt worden sind.

Die Berufsverbände, die ich in diesem Kontext bisher noch nicht erwähnt habe, sind natürlich auch wichtig. Sie agieren im Interesse der Berufsgruppe tatsächlich berufspolitisch und konnten in der Vergangenheit auch die eine oder andere Änderung im Gesundheitssystem zugunsten der Pflegenden erwirken, wie etwa die generalistische Ausbildung, das Studium der Pflege, den Pflegebonus oder auch ganz aktuell die Tariftreueregelung. Allerdings agieren Berufsverbände bisher aufgrund ihrer rechtlichen Struktur zu wenig berufsständisch analog einer Berufskammer.

Dass es bisher noch nicht flächendeckend zur Errichtung von Landespflegekammern in den Bundesländern gekommen ist, könnte sicherlich mit einer Art Übersättigung von Vertretungsformen zu tun haben, aber ganz sicher auch mit anders gelagerten Interessen, die eher die Kostenträger oder auch die Berufsgruppe der Ärztinnen und Ärzte begünstigen. An dieser Stelle möchte ich kurz erwähnen, dass ich gemeinsam mit meiner Berufskollegin Birgit Ehrenfels im März ein Buch mit dem Titel „Existenzrelevant! – Eine starke Pflege für Staat und Gesellschaft“ veröffentlicht habe. In dieser Publikation habe ich sehr ausführlich über diese Problem- und Interessenlagen der beruflich Pflegenden und weiterer Akteure im Gesundheitswesen geschrieben. Diese Thematik kann tatsächlich Seiten füllen, wenn man sich so wie ich schon länger damit beschäftigt hat.

 

Wann wäre aus Ihrer Sicht die Pflege in Deutschland keine Baustelle mehr?

Wenn alle Bundesländer über Pflegekammern verfügen und wir auf der Bundesebene neben einer Bundespflegekammer auch noch ein Bundesinstitut für Pflege und Pflegeforschung sowie ein Bundesministerium für Pflege und Gesundheit errichtet haben. Also in ca. 50 bis 70 Jahren könnte es sein, dass die Pflege in Deutschland dann vielleicht auf einem sehr guten Weg ist, keine Baustelle mehr zu sein bzw. zu bleiben. Dann hätte sie auch die Lobby und vor allen Dingen auch ganz andere Personal- und Finanzressourcen, um die notwendigen Themen entwickeln und die pflegerischen Leistungen weiter professionalisieren zu können. Andere Länder machen es uns schon seit über 150 Jahren vor, wie zum Beispiel England oder auch Australien.

Und dann haben wir natürlich noch lange nicht über die Digitalisierung oder den menschzentrierten Ansatz gesprochen, denn diese Aspekte müssen ja in die Ausbildung, Sozialisation und Kultur der beruflich Pflegenden in der Form einfließen, dass sie irgendwie völlig automatisch und natürlich aufgegriffen werden können. Das können wir zum heutigen Stand nämlich so noch nicht behaupten. So gesehen benötigen wir zuerst die entsprechenden Strukturen für Ausbildung, Studium, Forschung, Theorie-Praxis-Transfer, Anleitung, Evaluation und Management, um entsprechende Trendthemen, wie die Digitalisierung ja eines ist, zielführend und effektiv aufgreifen zu können.

 

„Wir benötigen zuerst die entsprechenden Strukturen für Ausbildung, Studium, Forschung, Theorie-Praxis-Transfer, Anleitung, Evaluation und Management, um entsprechende Trendthemen, wie die Digitalisierung ja eines ist, zielführend und effektiv aufgreifen zu können.“

 

Welche Meilensteine der Transformation des Pflegesystems wurden bereits erreicht und wie bewerten Sie die internationale Anschlussfähigkeit?

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass das Pflegeberufereformgesetz maßgeblich dazu verholfen hat, aus drei verschiedenen Berufszweigen eine gemeinsame generalistische Ausbildung zu bilden. Zwingend notwendig war diese Veränderung nicht nur, weil es eine Vorgabe der EU war, sondern auch, weil die Anforderungen sowohl in der Altenpflege wie auch in der Kranken- und Kinderkrankenpflege in den letzten 20 Jahren erheblich gestiegen sind.

Anspruchsvollere pflegerische und medizinische Leistungen kennzeichnen heute den Arbeitsalltag von vielen Kolleginnen und Kollegen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Mit der generalistischen Ausbildung sollte somit auch eine Ausbildung geschaffen werden, die Kenntnisse vermittelt, die in allen uns heute bekannten Pflegesettings zum Tragen kommen können. Allerdings müssen wir auch festhalten, können wir mit der generalistischen Ausbildung eine EU-weite Anerkennung erhalten, sofern wir nicht im dritten Ausbildungsjahr den Vertiefungsschwerpunkt in der Altenhilfe oder in der Kinderkrankenpflege erwerben. Dies ist mit den bisherigen Ausbildungszweigen oder jetzt auch mit dem Vertiefungsschwerpunkt nicht möglich gewesen. Eine EU-weite Anerkennung in der Pflegedisziplin zu erhalten, ist schon etwas Bemerkenswertes und ein ganz wichtiger Meilenstein in der deutschen Pflegegeschichte.

Ein weiterer Meilenstein ist der primärqualifizierende Bachelor-Studiengang. Wer heutzutage Pflege studiert und einen Bachelor of Nursing-Abschluss erwirbt, kann auch international arbeiten. Wichtig hierbei ist, dass wissenschaftliches Arbeiten am Bett möglich ist und diese Absolventen sehr viel besser den Transfer zwischen Theorie und Praxis leisten können und ihre eigenen pflegefachlichen Leistungen besser evaluieren können als klassisch ausgebildete Pflegefachpersonen. Die internationale Anerkennung zu erwerben, kann ebenfalls als Meilenstein hierzulande festgehalten werden. Jedoch müssen wir leider immer noch feststellen, dass mit diesen beiden Meilensteinen noch längst nicht die internationale Anschlussfähigkeit erreicht wird.

International betrachtet beginnen wir gerade damit, uns von der Hilfskraftebene auf eine Fachkraftebene zu heben. Uns ist innerhalb der Berufsgruppe bekannt, dass eine dreijährige Ausbildung im Ausland gerade mal (je nach Land) die Hilfskraftebene tangiert. Als Fachkräfte bezeichnet man im Ausland diejenigen, die einen Bachelor-Abschluss absolviert haben. Und diejenigen, die einen Master-Abschluss erworben haben, sind diejenigen, die sich vertiefend qualifiziert haben. Also sind Bachelor- und Master-Absolventen auch diejenigen, die kranke und pflegebedürftige Menschen betreuen und versorgen. Dann kommt erst einmal lange nichts – und dann kommt irgendwann der Arzt bzw. die Ärztin hinzu. In Deutschland ist es leider genau umgekehrt: Hier kommt zuerst der Arzt bzw. die Ärztin – und dann kommt ganz lange nichts. Deshalb stehen wir mit der Pflege in Deutschland da, wo wir jetzt stehen. Und die derzeitige Besetzung des Stuhls des Bundesgesundheitsministers und der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung scheint diese Situation der beruflich Pflegenden sehr gut abzubilden.

Liebe Frau Fajardo, ich danke Ihnen für das interessante und tiefgehende Gespräch.

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