Tierarzt Online – So gelingt es, die tierärztliche Versorgung flächendeckend sicherzustellen

Christian Gabrielse im Interview

Der gebürtige Niederländer Christian J. Gabrielse machte sein Hobby zum Beruf: Als begeisterter Reiter und Hundehalter studierte er Tiermedizin in Utrecht und gründete nach seiner dreijährigen Assistenzzeit in der Praxis Dr. Franz Engelhardt in Voerde seine eigene Tierarztpraxis Equiwell in Dinslaken, Nordrhein-Westfalen – zunächst als Gemischtpraxis und später als reine Pferdepraxis.

Die Gesundheit und das Wohlbefinden von Mensch und Tier liegt ihm persönlich am Herzen. Er ist fest davon überzeugt, dass die tierärztliche Versorgung dank der heute zur Verfügung stehenden digitalen Möglichkeiten anders gestaltet werden kann. Deshalb gründete Gabrielse im Jahr 2021 die Organisation tierarzt-online.org und startete den Aufbau der Plattform tierarzt-online.app.

Herr Gabrielse, Sie treten dafür ein, dass sich die tierärztliche Versorgung verändert. Warum?

Christian Gabrielse: Die tierärztliche Versorgung muss sich ändern, denn in bestimmten Gebieten Deutschlands kann sie schon jetzt nicht mehr gewährleistet werden. Es wird immer schwieriger, Nachwuchskräfte oder neue Mitarbeitende für eine Tierarztpraxis bzw. -klinik zu finden. Mangels Nachfolger schließen Praxen und Kliniken oder werden von ausländischen Tierarztketten gekauft. Die Gesundheit des Menschen hängt in besonderem Maße von der Tiergesundheit ab und deshalb ist es höchste Zeit, die tierärztliche Versorgung zu verändern.

Mehr dazu erfahren Sie im Interview mit Dr. Irit Nachtigall: One Health – Schritt für Schritt zu einer besseren Gesundheit.

Die Gründe, warum die flächendeckende, tierärztliche Versorgung gefährdet ist, betreffen die Tiermedizin nicht allein: Es sind die veränderten Werte und Lebensvorstellungen der „jungen“ Generation: Die Arbeit soll Spaß machen und sich gut mit dem Privatleben verbinden lassen. Sie wollen den Beruf nicht so leben, wie wir es als „alte“ Generation über Jahrzehnte praktiziert haben. Die Wochenarbeitszeit vollzeittätiger Tiermediziner der Babyboomer und Generation X ist hoch und durch Notdienste nachts oder am Wochenende kommen schnell bis zu 90 Arbeitsstunden/Woche zusammen. Es bleibt nur noch wenig Zeit für die Familie.

Hinzu kommt, dass sich der einstige Männerberuf Tierarzt mehr und mehr zur Frauendomäne entwickelt. Seit vielen Jahren liegt der Frauenanteil im Fach Veterinärmedizin bei etwa 85 %. Die Berufsflucht ist jedoch enorm: Wir verlieren bereits einen Großteil der Absolventen, weil sie als Berufseinsteiger einen ganz anderen Beruf wählen. Etwa ein Drittel der der Kolleginnen und Kollegen mit einem Staatsexamen in der Veterinär- oder Humanmedizin sind nach nur zwei Jahren nicht mehr in ihrem Beruf tätig. Tierärztinnen, die Kinder bekommen, kehren häufig nicht mehr in den Beruf zurück, weil sie vergeblich nach flexiblen und auskömmlichen Teilzeitstellen suchen.

„Die Gesundheit des Menschen hängt in besonderem Maße von der Tiergesundheit ab und deshalb ist es höchste Zeit, die tierärztliche Versorgung zu verändern.“

Wie kam es zur Gründung von Tierarzt Online?

Ich bin im Jahr 2019 erstmals im Rahmen eines Kongresses im Bereich der Humanmedizin mit der Telemedizin in Kontakt gekommen und habe mich gefragt: Warum gibt es das nicht für die Tiermedizin auf dem europäischen Festland?

Im Jahr 2021 – während der Pandemie – war der richtige Zeitpunkt für die Gründung von Tierarzt Online, denn es hatte sich eine offene, der Online-Beratung zugewandte Einstellung und Denkweise in der Gesellschaft entwickelt. Meine Motivation: Tierhaltern eine schnelle, zuverlässige tierärztliche Beratung über eine Plattform mit Online-Terminbuchungen und Online-Sprechstunden anzubieten.

Für Tierhalter und insbesondere die Digital Natives, die seit den frühesten Kindertagen mit digitalen Geräten und elektronischen Medien aufgewachsen sind, ist es der erste Schritt, Dr. Google zu befragen, wenn es dem vierbeinigen Liebling nicht gut geht. Noch viel zu häufig landen sie schnell bei selbsternannten Foren-Experten. Der Erfolg ist mäßig, denn die Entscheidung, wie die beobachteten Symptome zu bewerten sind, kann nur eine erfahrene Tierärztin bzw. Tierarzt treffen.

Um den äußerst großen Beratungs- und Informationsbedarf der Tierhalter zu ihren Nutz- oder Haustieren künftig besser nachkommen zu können, ist es mein Ziel, eine digitale Plattform von Tierärzten für Tierärzte und Tierhalter aufzubauen. Herzstück soll eine offene, cloudbasierte, digitale Patientenakte sein, auf die die Behandler unabhängig von der Versorgungsebene und der jeweilige Tierhalter zugreifen können
 

„Um den äußerst großen Beratungs- und Informationsbedarf der Tierhalter zu ihren Nutz- oder Haustieren künftig besser nachkommen zu können, ist es mein Ziel, eine digitale Plattform von Tierärzten für Tierärzte und Tierhalter aufzubauen.“

Welche Hürden und Herausforderungen gibt es während der Aufbauphase und wie begegnen Sie diesen?

Meine persönliche Herausforderung: Mich selbst neben der Fortführung meiner Pferdepraxis Equiwell zu den Themen rund um die Digitalisierung, Website-Aufbau und richtige Ansprache meiner zwei Zielkundengruppen, den Tierärztinnen und Tierärzten sowie den Tierhaltern, zu befähigen.

Für mich als Geschäftsführer ist es deshalb äußerst wichtig, mit erfahrenen Experten zusammenzuarbeiten. An dieser Stelle möchte mich herzlich bei Ihnen, Frau Müller-Dodt, bedanken. Sie haben mich im Executive Sparring inspirierend begleitet. Ihre externe Perspektive und profunde Expertise in der Gesundheitsbranche waren für mich sehr hilfreich und wertvoll. Dank Ihrer wertvollen Impulse schärfte sich meine Sicht auf die nächsten Schritte, um die Organisation tierarzt-online.org und die Plattform tierarzt-online.app weiter gut voranzubringen.

Eine weitere Herausforderung: Das noch vorhandene, konservative Denken der Tierärzte, das Tier riechen, fühlen und anpacken zu müssen, muss sich wandeln. Schließlich geht es in der Online-Sprechstunde darum, zu entscheiden, ob das, was vier Beine, Flügel, Fell oder Federn hat, in die Praxis gebracht und eingehend untersucht werden muss. In diesem Fall kann unmittelbar ein Termin in der gewohnten Praxis oder Tierklinik vereinbart und die Verdachtsdiagnose mitgeteilt werden. In den meisten Fällen kann jedoch das Problem des Tierbesitzers in der Online-Sprechstunde gelöst werden, indem z. B. der Tierarzt zu den Fragen rund um die artgerechte Tierhaltung und Gesunderhaltung informiert und aufklärt.

„Das noch vorhandene, konservative Denken der Tierärzte, das Tier riechen, fühlen und anpacken zu müssen, muss sich wandeln. Schließlich geht es in der Online-Sprechstunde darum, zu entscheiden, ob das, was vier Beine, Flügel, Fell oder Federn hat, in die Praxis gebracht und eingehend untersucht werden muss.“

Wie trägt Tierarzt Online dazu bei, dass die Arbeit für das tierärztliche Personal attraktiver wird?

Tierarzt Online ist eine einfache, intuitive Plattform. Sie erhöht die berufliche Freiheit für die Tierärztinnen und Tierärzte, denn sie können ihre tierärztliche Tätigkeit zeit- und ortsunabhängig und in Selbstständigkeit ausführen. Die Arbeit lässt sich viel besser mit der privaten Lebenssituation verbinden. So können werdende Mütter, für die Tierkontakt ab bestätigter Schwangerschaft gemäß der Verordnung zum Schutze der Mütter am Arbeitsplatz (MuSchArbV) nicht mehr möglich ist, ihre Praxis weiterhin online unterstützen. Sie können dafür sorgen, dass nur die Patienten in die Praxis kommen, die eine Behandlung bedürfen, und erleichtern dem Praxisteam vor Ort die weitere Koordination.

Die älteren Tierärzte, die Schritt für Schritt aus dem Beruf aussteigen wollen, haben dank Tierarzt Online die Möglichkeit, den wöchentlichen Arbeitsumfang zu reduzieren, indem sie sich auf ihren festen tierischen Patientenstamm fokussieren. In die Praxis kommen nur noch die tierischen Patienten mit einem weitergehenden Behandlungsbedarf.

Die Online-Sprechstunden mittels Tierarzt Online App sind darüber hinaus äußerst nützlich für die Nachsorge der tierischen Patienten. So kann beispielsweise eine Wundheilung mittels Telemedizin effizient und höchst flexibel überwacht werden.

Ein großer Pluspunkt des Online-Systems von tierarzt-online.org ist, dass die Abrechnung nach GOT (Gebührenordnung für Tierärztinnen und Tierärzte) genau und automatisiert geregelt wird. Das spart Zeit und das Praxisteam vor Ort kann sich auf die intensiveren Behandlungen konzentrieren.

„Tierarzt Online erhöht die berufliche Freiheit für die Tierärztinnen und Tierärzte, denn sie können ihre tierärztliche Tätigkeit zeit- und ortsunabhängig und in Selbstständigkeit ausführen.“

Bild: © Shutterstock

Welcher Nutzen ergibt sich für die Tierbesitzer durch den digitalen Ansatz in der tierärztlichen Versorgung?

Mit der Tierarzt Online App haben die Tierbesitzer ihren persönlichen Tierarzt immer dabei. Ob im Urlaub, beim Waldspaziergang oder im eigenen Wohnzimmer – die Tierarzt Online App ermöglicht bequem und einfach, zu jeder Zeit und von jedem Ort eine schnelle fachkundige Beratung. Das ist auch für das Tier sehr viel entspannter: Ein Transport zur Praxis oder Klinik ist nur noch nötig, wenn es eingehender untersucht werden muss. Und für diesen Fall wird direkt ein Termin vereinbart, sodass die Untersuchung ohne lange Wartezeit stattfinden kann.

Der Tierhalter kann selbst darüber entscheiden, welche Informationen und Daten zum Tier in der Patientenakte freigegeben werden. Da die Tierärzte von Tierarzt Online auf diese Daten direkt zugreifen können, kann sich der Tierhalter auf sein aktuelles Anliegen und das, was den tierischen Liebling plagt, konzentrieren. Ein großer Vorteil: Die Online-Sprechstunde wird schriftlich dokumentiert, sodass der Tierhalter im Nachgang die tierärztliche Empfehlung in Ruhe nachlesen kann. Und die Online-Sprechstunde wird transparent gemäß GOT abgerechnet. Dafür hinterlegt der Tierhalter in seinem Profil seine bevorzugte Online-Zahlmethode, über die die angefallenen Kosten unkompliziert bezahlt werden.

„Die Tierarzt Online App ermöglicht bequem und einfach, zu jeder Zeit und von jedem Ort eine schnelle fachkundige Beratung. Das ist auch für das Tier sehr viel entspannter.“

Welche Parallelen zur Humanmedizin sehen Sie mit Bezug auf eine bessere Versorgung dank Telemedizin?

Die uns heute zur Verfügung stehenden digitalen Möglichkeiten ermöglichen den Human- und Tiermedizinern eine viel bessere Beratung, z. B. durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Rahmen der Diagnostik. Doch unsere Rolle wird sich dadurch ändern: Wir als Ärzte haben die Aufgabe, die KI-Ergebnisse im Patientengespräch in eine einfache, gut verständliche Sprache zu übersetzen und die individuell passende Therapieentscheidung zu treffen.

Durch die Telemedizin kann der Beruf leichter mit der Familie vereinbart werden. Das bedeutet für die Arbeitgeber in Praxen und Kliniken, dass es für sie einfacher werden kann, qualifizierte Mitarbeitende zu finden und langfristig an sich zu binden. Da nur noch die intensiven Fälle in die vor Ort-Versorgung kommen müssen, entspannt sich die Situation in den Warteräumen, das Personal wird deutlich entlastet und hat wieder mehr Spaß bei der Arbeit.
 

Mehr erfahren Sie dazu im Interview mit Christine Carius: So verbessern telemedizinische Lösungen die Gesundheitsversorgung.

„Unsere Rolle wird sich dadurch ändern: Wir als Ärzte haben die Aufgabe, die KI-Ergebnisse im Patientengespräch in eine einfache, gut verständliche Sprache zu übersetzen und die individuell passende Therapieentscheidung zu treffen.“

Welche wichtigen Schritte sind unerlässlich, damit die zukunftsorientierte tierärztliche Versorgung mittels Telemedizin erfolgreich etabliert werden kann?

Die berufspolitischen Rahmenbedingungen sind weiter zu verbessern, um die Zusammenarbeit der Tierärzte untereinander zu ermöglichen und die flächendeckende Notdienstversorgung sicherzustellen. Dazu gehört auch, dass die arbeitsrechtlichen Bedingungen deutlich zu verbessern sind, insbesondere auch für die angestellten Tierärzte. Die im Arbeitszeitgesetz ausgewiesenen Flexibilisierungsmöglichkeiten, dass in Tarifverträgen einvernehmlich eine längere Arbeitszeit vereinbart werden könne, nützen der Tierarztbranche nicht. Schließlich haben wir keine Tarifpartner wie Arbeitgeber/Arbeitnehmer-Verbände, um einen Tarifvertrag abzuschließen.

Auch sind die gesetzlichen Bestimmungen zu lockern, sodass z. B. in Rahmen von telemedizinischen Sprechstunden Medikamente verschrieben werden können und diese unmittelbar vom Tierarzt bestellt und dem Tierhalter zugestellt werden können.

In der Tierärzteschaft gilt es, weiter Vertrauen in die digitalen Möglichkeiten aufzubauen. Mit Tierarzt Online entsteht ein großes Netzwerk von Tierärzten für Tierärzte und Tierhalter: Wir Tierärzte kümmern uns gemeinsam darum, die Gesundheit und das Wohlbefinden der uns anvertrauten Tiere zu verbessern. Und die Tierhalter können sich untereinander vernetzen und ihre Erfahrungen in der artgerechten Tierhaltung und Gesunderhaltung austauschen. Auf diese Weise wird es uns gelingen, die tierärztliche Versorgung auch in Zukunft zum Wohle von Mensch und Tier sicherzustellen.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.