Dr. Dorothee Brakmann im Interview

Healthcare Change-Pioniere - Dr. Dorothee Brakmann spricht im Interview mit Janine Müller-Dodt über wichtige Voraussetzungen für Value Based Healthcare.

©Janssen Cilag GmbH

Im Interview spricht Dr. Dorothee Brakmann über Value Based Healthcare und zeigt auf, welche Voraussetzungen erforderlich sind, um das Gesundheitssystem im Sinne von Value Based Healthcare weiterzuentwickeln.

Dr. Dorothee Brakmann startete 2008 ihre Karriere als Leiterin Gesundheitspolitik bei der Janssen Cilag GmbH in Neuss. Im Jahr 2018 übernahm die approbierte Pharmazeutin die Leitung des Bereiches Gesundheitsökonomie, Marktzugang und Erstattung und wurde zugleich Mitglied der Geschäftsleitung. Seit dem 01. Juli 2021 verantwortet Dr. Brakmann als Direktorin den Geschäftsbereich Onkologie/Hämatologie. Vor ihrem Wechsel zu Janssen war sie u. a. als Krankenhausapothekerin tätig, arbeitete für Kostenträger im Gesundheitswesen und entwickelte pharmaökonomische Softwarelösungen für Apotheken.

Janssen ist eines der weltweit führenden forschenden Pharmaunternehmen und Teil des globalen Gesundheitsunternehmens Johnson & Johnson. In Deutschland hat das Unternehmen mit Sitz in Neuss (NRW) über 1.000 Mitarbeiter:innen und ist die Nummer 2 der forschenden Pharmaunternehmen. Janssen investiert weltweit täglich etwa 22 Millionen Euro in die Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente. 18 Wirkstoffe des Unternehmens stehen auf der WHO-Liste der unverzichtbaren Arzneimittel. Forschungsschwerpunkte sind Onkologie, Immunologie, Infektiologie, Neurowissenschaften und Pulmonale Hypertonie.

Frau Dr. Brakmann, wie stellen Sie sich das Gesundheitssystem in fünf Jahren vor?

Dr. Dorothee Brakmann: Ich habe keine Glaskugel zur Hand. Aber: Ich habe eine Vision. Meine – unsere Vision bei Janssen – ist ein nachhaltig leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem, in dem das Potenzial des medizinisch-technischen Fortschritts konsequent im Sinne der Patient:innen ausgeschöpft wird und alle Akteur:innen ein gemeinsames Ziel verfolgen: jedem Menschen die individuell beste Gesundheitsversorgung zum individuell richtigen Zeitpunkt zu ermöglichen. Weg von einer standardisierten Versorgung nach dem Prinzip Gießkanne, hin zu einer vorausschauenden, ganzheitlichen und möglichst individuellen Versorgung, die das Ergebnis bei den Patient:innen in den Fokus stellt. Kurz gesagt: ein Gesundheitssystem im Sinne von Value Based Healthcare.

 

Was genau bedeutet für Sie Value Based Healthcare?

Value Based Healthcare (VBHC) ist ein Konzept, das 2006 von den Harvard Ökonomen Michael Porter und Elizabeth Teisberg erstmals vorgestellt wurde und seither intensiv diskutiert wird – zunehmend auch in Deutschland. Das Ziel einer wertbasierten Gesundheitsversorgung im Sinne von VBHC ist, das beste gesundheitliche Ergebnis für den einzelnen Menschen zu erzielen. Dafür muss im ersten Schritt definiert werden, was im Einzelfall erreicht werden soll: Geht es darum, Leben zu verlängern oder Schmerzen zu lindern? Soll der Ausbruch einer Erkrankung verhindert werden? Das Ziel bestimmt den Versorgungsprozess, einschließlich Therapieauswahl, -abfolge und Erfolgsmessung. Das von den Patient:innen wahrgenommene Ergebnis ist Maßstab für die Bewertung der Qualität einer Behandlung und damit letztlich für die Erstattung.

 

Wie weit sind wir heute von einer solch wertbasierten Versorgung entfernt?

Ziemlich weit, um ehrlich zu sein.

 

Woran hakt es?

Verkürzt gesagt: Wir schöpfen unser Potenzial nicht aus. Unser Gesundheitssystem hat sich in der Pandemie als leistungsstark erwiesen, insbesondere im internationalen Vergleich. Es ist jedoch darauf ausgelegt, tradierte Erkrankungen zu behandeln, wenn sie ausgebrochen sind. Überspitzt gesagt: Wir warten ab, bis die Menschen krank werden, um sie dann – in der Regel entsprechend der in den Leitlinien vorgegebenen Therapiesequenz – standardisiert zu therapieren und die Kosten hierfür zu erstatten. Dabei sind wir medizinisch gesehen schon deutlich weiter: Moderne Therapien – etwa in der Onkologie – berücksichtigen immer besser die individuellen Veranlagungen und die spezifische Ausprägung der Erkrankung bei den Betroffenen, setzen immer früher an, wirken zunehmend präzise. Der Haken: Je frühzeitiger eine Therapie ansetzt, je präziser sie wirkt, desto schwieriger ist es, sie in die Versorgung und damit zu den Patient:innen zu bekommen, die darauf warten. Ein weiterer Aspekt ist unser heutiges Verständnis von guter Gesundheitsversorgung. VBHC versteht Versorgung als Facharzt- und sektorenübergreifenden Gesamtprozess, der ergebnisorientiert geplant und entsprechend der individuellen Zielsetzung umgesetzt wird. Im Vergleich zu unserer heutigen Herangehensweise ist das ein echter Paradigmenwechsel.

 

„Das Wichtigste ist, dass wir unser Mindset im Sinne von VBHC ändern und Versorgung als ganzheitlichen Prozess begreifen, den wir konsequent vom Ergebnis her planen und umsetzen.“

 

Was müssen wir tun, damit Patient:innen in Deutschland in den Genuss einer wertbasierten Gesundheitsversorgung im Sinne von VBHC kommen?

Das Wichtigste ist, dass wir unser Mindset im Sinne von VBHC ändern und Versorgung als ganzheitlichen Prozess begreifen, den wir konsequent vom Ergebnis her planen und umsetzen: Erst wird das Ziel definiert, dann der Weg dorthin festgelegt. Das für die Patient:innen relevante und wahrgenommene Ergebnis ist Maßstab für die Bewertung der Qualität einer Behandlung, auch in monetärer Hinsicht. Wir müssen also verbindliche Parameter definieren, mit denen das Ergebnis einer Behandlung aus der Perspektive der Patient:innen bewertet werden kann. Dass die Betroffenen selbst dabei unmittelbar eingebunden sein müssen, versteht sich von selbst.

Wenn wir erreichen wollen, dass innovative Therapien den richtigen Patient:innen zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, müssen wir zeitgemäße Methoden, moderne Studiendesigns und Endpunkte zulassen, mit denen wir die Evidenz moderner Therapien und ganz neuer Behandlungsansätze nachweisen können. Wir sind zudem gut beraten, das Potenzial der Digitalisierung bestmöglich zu nutzen, um datenbasierte Therapieentscheidungen treffen und transparent nachvollziehen zu können, wie Therapien im Versorgungsalltag wirken. Die Voraussetzungen dafür sind – neben einer realistischen Balance aus Datenschutz und erlaubter Datennutzung – eine strukturierte, systematische Erfassung von Versorgungsdaten in guter Qualität, der gleichberechtigte Zugang forschender Akteure dazu und nicht zuletzt eine IT-Infrastruktur, die die Interoperabilität von Daten und Systemen gewährleistet.

Nicht zu vergessen: Wertbasierte Gesundheitsversorgung braucht eine wertbasierte Incentivierung von medizinischen Innovationen und Behandlungserfolgen. Dafür müssen wir das heutige Anreizsystem anpassen. Eine faire, ergebnisbezogene Incentivierung würde es Unternehmen wie Janssen ermöglichen, auch in Zukunft verlässlich in die Erforschung und Entwicklung dringend benötigter Therapien gegen Krankheiten zu investieren, die heute noch nicht oder nur unzureichend therapierbar sind.

 

Was tut Janssen konkret, um die Gesundheitsversorgung im Sinne von Value Based Healthcare zu verbessern?

Wir entwickeln innovative Arzneimittel und bessere oder auch gänzlich neue Therapieansätze, die dazu beitragen, Erkrankungen, die heute noch gar nicht oder nur unzureichend behandelt werden können, zunehmend personalisiert und präzise zu behandeln. Außerdem bringen wir unser methodisches Know-how ein, um das Ergebnis unserer Therapien im Sinne von VBHC messbar zu machen. Zudem sind wir offen für innovative Erstattungsmodelle, die die Höhe der Incentivierung am Ergebnis ausrichten – auch das ist ganz im Sinne von Value Based Healthcare.

Darüber hinaus initiieren beziehungsweise unterstützen wir Versorgungsprojekte, die den Outcome bei den Patient:innen im Sinne von VBHC optimieren. Ein Beispiel ist das Projekt KAIT, das wir gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Leipzig umsetzen. Dabei handelt es sich um ein KI-basiertes System, das Ärzt:innen dabei unterstützt, für Patient:innen mit komplexen Bluterkrankungen den individuellen Therapiepfad zu identifizieren. Die eigentliche Therapieentscheidung bleibt selbstverständlich bei den behandelnden Ärzt:innen, KAIT liefert jedoch die Daten und Evidenz dazu.

 

„Die Voraussetzungen dafür sind – neben einer realistischen Balance aus Datenschutz und erlaubter Datennutzung – eine strukturierte, systematische Erfassung von Versorgungsdaten in guter Qualität, der gleichberechtigte Zugang forschender Akteure dazu und nicht zuletzt eine IT-Infrastruktur, die die Interoperabilität von Daten und Systemen gewährleistet.“

 

Wie schaffen Sie es, die beteiligten Akteure mitzunehmen und Patientenpfade gemeinsam neu zu strukturieren und erfolgreich zu gestalten?

Durch Dialog und maximale Kooperationsbereitschaft. Die Weiterentwicklung unseres auf die Behandlung von Krankheiten fokussierten Systems hin zu einem System, das im Sinne von Value Based Healthcare darauf ausgerichtet ist, Gesundheit und Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern, ist ein dickes Brett. Wenn wir dieses Brett fachgerecht – im Sinne der Patient:innen von heute und der Betroffenen von morgen – bohren wollen, müssen alle ihren Teil beitragen: Ärzt:innen und weitere Leistungserbringer:innen, Kliniken, Krankenkassen, Fachgesellschaften, forschende Unternehmen, die Politik und nicht zuletzt die Patient:innen selbst.

Den notwendigen Dialog über die Chancen, Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze treiben wir seitens Janssen seit mehr als einem Jahr voran. Dafür nutzen wir unter anderem unsere eigene Dialog-Plattform, das Janssen Open House.

Bereits zweimal haben wir Entscheider:innen und Vordenker:innen aus sämtlichen Bereichen des Gesundheitswesens zu digitalen Lunchbreaks eingeladen, in denen es darum ging, wie VBHC im deutschen Gesundheitssystem realisiert werden kann. Die Resonanz war enorm, die Ergebnisse haben wir zusammen mit Moderatorin Inga Bergen in zwei Podcast-Folgen zusammengefasst.

Darüber hinaus erarbeiten wir aktuell mit den Teilnehmer:innen ein Positionspapier, mit dem wir das Thema VBHC gemeinsam in die Politik tragen wollen. Zusätzlich zum Janssen Open House nutzen wir natürlich auch externe Plattformen und Initiativen, um die Debatte um VBHC voranzutreiben, so etwa die Initiative Handelsblatt Health, die wir von Beginn an als Initiativpartner unterstützen.

 

Wie beeinflusst die Fokussierung auf Value Based Healthcare die Prozesse, Abläufe und Vorgehensweisen in Ihrer Organisation?

Uns bei Janssen eint ein gemeinsames Ziel: Wir wollen erreichen, dass jeder Mensch die Chance auf die individuell bestmögliche Gesundheitsversorgung zum individuell richtigen Zeitpunkt hat. Wir sind davon überzeugt: Der Weg dorthin führt – ohne Alternative – über Value Based Healthcare. Um unsere Prozesse bestmöglich im Sinne danach auszurichten, haben wir crossfunktionale Teams gebildet, die für jede Indikation und jede Therapie analysieren, welchen Beitrag im Sinne von VBHC wir wie leisten können. Das Engagement der Kolleg:innen ist sehr hoch. Value Based Healthcare ist ein Herzensthema – für uns alle.

 

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Sind Sie auch ein Healthcare Change-Pionier?

Diese Interviews könnten Sie auch interessieren:

Woran die interprofessionelle Gesundheitsversorgung in Deutschland scheitert

Woran die interprofessionelle Gesundheitsversorgung in Deutschland scheitert

„Die individuelle Versorgung könnte substanziell verbessert werden, wenn die einzelnen Versorgenden je nach Versorgungsbedarf ihre Kompetenzen bedarfsorientiert und selbstständig – ohne eine ärztliche Verordnung – einbringen könnten und alle Professionen gleichberechtigt auf Augenhöhe zusammenarbeiten würden.“

Sonja Laag, Expertin IPAG e.V.

mehr lesen
Cookie Consent mit Real Cookie Banner