Melanie Philip im Interview

Healthcare Change-Pioniere – Frau Melanie Philip spricht im Interview mit Janine Müller-Dodt über den Aufbau der Tele-Pflege.

© care pioneers GmbH

Im Interview berichtet Frau Philip über die vielfältigen Initiativen der Pflegepioniere, die Tele-Pflege und den Aufbau eines digitalen Ecosystems für die Pflegeversorgung.

Der Auf- und Ausbau digitaler Versorgungsformen und die Akademisierung der Pflege sind die Herzensthemen der studierten Gerontologin Melanie Philip. Die Gründerin und Geschäftsführerin der Pflegepioniere, einer Marke der care pioneers GmbH in Oldenburg, hat ein erklärtes Ziel: Pflege wieder zukunftsfähig machen.

Das inzwischen siebenköpfige Team der im Jahr 2019 aus der VITA Akademie GmbH ausgegründeten Pflegepioniere unterstützt und befähigt ambulante Pflegeunternehmen bei der Personal- und Organisationsentwicklung, entwickelt innovative und digitale Versorgungsformen weiter, unterstützt bei der Beantragung von Fördergeldern, befähigt im Umgang mit Fördergeldern und begleitet Gesundheitseinrichtungen bei der Vorbereitung auf die Kenntnisprüfung ihrer ausländischen Fachkräfte.

Die Pflegepioniere treiben aktiv die Vernetzung der Akteure auf dem Pflegemarkt voran, helfen bei der Umsetzung herausfordernder und notwendiger Veränderungen, vermitteln Experten und führen Personal- und Marketingkampagnen durch, um den zunehmenden Fachkräftemangel insbesondere im ländlichen Raum zu bewältigen.

Zudem engagieren sich die Pflegepioniere für sozialinnovative Projekte. Neben der Telepflegeinitiative setzen sie sich mit dem Projekt „DiCasa“ für die enge Kooperation von Pflegediensten zur Sicherstellung einer optimalen Quartiersversorgung ein und unterstützen mit dem Projekt „Bridge“ zugewanderte Ärzte.

 

Frau Philip, wie tragen Ihre Initiativen dazu bei, die Gesundheitsversorgung zu verbessern? Und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?

Melanie Philip: Die Gesundheitsversorgung kann an unterschiedlichen Stellschrauben verbessert werden. Wir unterstützen und befähigen die Gesundheitsunternehmen darin, sich weiterzuentwickeln. Mit der Stimulation von Innovation fördern wir, dass unsere Kunden über den Tellerrand schauen, aus der eigenen unzulänglichen Situation heraustreten, kreativ werden und neue Lösungsansätze entwickeln.

Dabei ist die Digitalisierung ein zentrales Mittel zum Zweck, denn bei digitalen Versorgungsformen wie der Telepflege geht es insbesondere darum, Expertise von einem Ort zum anderen zu bringen. Wir denken Prozesse vor, unterstützen bei der Umsetzung und dem Aufbau von Infrastrukturen und vermitteln digitale Kompetenzen. Bei allen Initiativen ist es wichtig, niedrigschwellig anzufangen, damit die Beteiligten den Mehrwert spüren.

 

„Dabei ist die Digitalisierung ein zentrales Mittel zum Zweck, denn bei digitalen Versorgungsformen wie der Telepflege geht es insbesondere darum, Expertise von einem Ort zum anderen zu bringen.“

 

Auf welche Initiative sind Sie besonders stolz und warum?

Es gibt zwei Initiativen, auf die wir besonders stolz sind: die Telepflegeinitiative und das Projekt „Bridge“.

Mit der Telepflegeinitiative konnten wir den Begriff „Telepflege“ in den Gesetzestexten der neuen Pflegereform platzieren. Unser Ziel ist es, mithilfe dieser Initiative ein großes Ecosystem aufzubauen, in dem alle Akteure miteinander in Verbindung treten und sich digital austauschen. Zu diesem Zweck haben wir das Projekt „TELAV – Televersorgung im Landkreis Vechta“ gemeinsam mit den Kommunen Lohne und Vechta, der Schwester-Euthymia-Stiftung mit den Krankenhäusern Lohne und Vechta, der St. Hedwig-Stiftung mit ihrer Kompetenz in der stationären und ambulanten Pflege und der Universität Vechta gestartet, um herauszufinden, wie die einzelnen Akteure Televersorgung nutzen können.

Wir setzen für die Telepflegeinitiative auf eine ausgereifte Plattformtechnologie, die Stefanie Oeft-Geffarth schon seit über 5 Jahren für ihren SMP- Funeral Marketplace, den Marktplatz für Abschied, erprobt und weiterentwickelt. Das ist ein vollständiges Ecosystem mit transparenten und funktionierenden Prozessen rund um die Themen Vorsorgen und Verfügen, Bestatten, Trauern und Gedenken, das alle wichtigen Akteure, u.a. auch die Versicherer für Sterbegeld einbindet. Nach diesem Vorbild wollen wir auch die Pflegebranche digitalisieren und demokratisieren.

Wir wollen es den Angehörigen so einfach wie möglich machen, in Zeiten mangelnder Pflegedienste Unterstützung, Rat und Hilfe via Videotelefonie einzuholen. Wir werden nützliche Informationen zu den verschiedenen Versorgungssituationen und ein Chatbot-Angebot zur Verfügung stellen, damit sich die Angehörigen sicherer in der individuellen Versorgungssituation fühlen.

So kann ein Burnout durch die hohe Belastung vermieden werden. Es werden auch Screenings für Angehörige eingebaut, die es uns ermöglichen, rechtzeitig weitergehende individuelle Unterstützungsmöglichkeiten wie die Befähigung im Umgang mit Stress anzubieten.

Es müssten darüber hinaus analoge „digitale Begleiter“ ausgebildet werden, die die Angehörigen vor Ort bei einem Online-Videocall unterstützen und befähigen. Das wäre dann in der Tat ein neues Berufsbild, das geschaffen werden muss.

Die Initiative „Bridge“ ist eine sehr wichtige sozialinnovative Initiative, denn wir können darüber die in Deutschland vorhandenen Ressourcen ausländischer Ärzte gewinnen. Das ist vor dem Hintergrund des zunehmenden Ärztemangels von enormer Bedeutung. Eine aktuelle Studie belegt, dass im Jahr 2035 bundesweit etwa 11.000 Hausärzte fehlen werden und in einigen Landkreisen die Zahl der Hausärzte bis 2035 um rund 50 Prozent zurückgehen wird. Allein in Niedersachsen werden dann 3.000 Hausärzte fehlen.

Das verdeutlicht, dass Hausärzte dringend benötigt werden, damit die Versorgung und Pflege regional umgesetzt werden kann. Deshalb unterstützen wir die zugewanderten Ärzte bei der Anerkennung ihrer Ausbildung, der Fachsprachprüfung und der Approbation. Wir sorgen dafür, dass sie eine Anstellung in einer regionalen Hausarztpraxis finden.

Auch in diesem Projekt geht es uns darum, ein einfaches, logisches Ecosystem aufzubauen. Im Grunde ist es eine eAkte für ausländische Fachkräfte, in der alle erforderlichen Dokumente wie Visa und Diplome über die Blockchain-Technologie geschützt werden und bei Bedarf von den Behörden über einen Freigabeschlüssel heruntergeladen werden können. Mit der eAkte schaffen wir die Möglichkeit, dass die Dokumente zentralisiert und im Ergebnis die Ärzte schneller eingestellt werden.

 

„Wir wollen es den Angehörigen so einfach wie möglich machen, in Zeiten mangelnder Pflegedienste Unterstützung, Rat und Hilfe via Videotelefonie einzuholen.“

 

Welche Hürden gibt es bei der Umsetzung solcher Initiativen und wie begegnen Sie diesen?

Die Herausforderungen sind sehr häufig systemisch und betreffen die rechtlich-politische Ebene, d.h. es fehlen häufig gesetzliche Rahmenbedingungen und Abrechnungsoptionen. Für das Telepflege-Projekt fehlt ganz klar eine flächendeckende digitale Infrastruktur, also ein Breitband- bzw. Glasfasernetz.

Wir begegnen diesen Hürden, indem wir transparent darüber informieren. Schließlich kann ein eingebundener Akteur nur Abrechnungsoptionen schaffen, wenn er Kenntnis davon hat, dass hier etwas fehlt. Und wir können diese Hürden umgehen, indem wir einfach anfangen und ganz klare Mehrwerte aufzeigen, auch wenn diese noch nicht abrechenbar sind.

 

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Die Telepflege ist noch nicht abrechenbar über Krankenkassen, dennoch fangen wir an, Telepflege in den Pflegediensten zu installieren und entsprechende Projekte in den Gesundheitsunternehmen zu platzieren. So kann schon Software angewendet werden, um einfacher miteinander zu kommunizieren. Das schont die knappen Ressourcen und ermöglicht eine zeit- und kilometersparende Betreuung von Pflegebedürftigen. Und das ist auch in der aktuellen Klimaschutzdebatte von enormer Bedeutung.

 

Welches sind die Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Umsetzung und wie schaffen Sie es, das Umfeld mitzunehmen?

Es ist wichtig, mit den Akteuren zu sprechen und sie dafür zu sensibilisieren, welche Hürden bestehen. Das ermöglicht, gemeinsam in Lösungen zu denken. Beispielsweise muss eine Kommune Lösungen finden für den Mangel an Pflegefachkräften und Ärzten, indem sie Anreize schafft, wie z.B. die Gewährung eines Mietzuschusses oder das Freihalten von Sozialwohnungen für zugewanderte Fachkräfte.

Es muss eine Grundstruktur aufgebaut werden, damit Pflegedienste auch Telepflege integrieren können. Ich motiviere Pflegedienste immer wieder, mit den zuständigen Bürgermeistern zu sprechen und sie über die Lage zu informieren.

 

Welche Reaktionen erwarten Sie von den Interessengruppen auf die nachweislichen Fortschritte, wenn das digitale Ecosystem erst einmal erfolgreich etabliert ist?

Unsere wichtigsten Zielgruppen sind die Angehörigen mit den zu Pflegenden und die Pflegefachkräfte. Ich bin sicher, dass die Digitalisierung für alle ein Stück Erleichterung bringen wird.

Die Angehörigen werden eine große Entlastung spüren, sie fühlen sich nicht mehr allein, finden sich zurecht, können die individuelle Versorgungssituation viel besser meistern, denn sie haben mehr Wissen über das Krankheitsbild ihres Angehörigen.
Fakt ist doch: Wenn ich ordentlich informiert bin, gehe ich anders mit Situationen um. Und wenn ich weiß, wen ich anrufen kann, wenn es Probleme gibt, gibt mir das Sicherheit.

Da es künftig zu wenig Pflegedienste und Pflegefachkräfte geben wird, ist es von zentraler Bedeutung, dass wir die Angehörigen befähigen, mit ihrer individuellen Situation umzugehen, und gleichzeitig die Vereinbarung von Pflege und Beruf sicherstellen. Schließlich brauchen wir die Menschen auch an ihren Arbeitsplätzen. Es wird für alle einfacher, wenn die Pflege zu Hause nicht mehr als zu große Belastung empfunden wird. Deshalb wollen wir mit unserem Ecosystem, das wir aufbauen, Unterstützung verfügbar machen.

 

„Es wird für alle einfacher, wenn die Pflege zu Hause nicht mehr als zu große Belastung empfunden wird. Deshalb wollen wir mit unserem Ecosystem, das wir aufbauen, Unterstützung verfügbar machen.“

 

Schlussendlich verändern die digitalen Versorgungsformen auch die Kultur in der Pflegebranche und dafür braucht es auch eine neue Führungskultur. Was macht aus Ihrer Sicht die neue Führungskultur aus?

Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden: zum einen die Kompetenz, die ich mitbringe, und zum anderen die Methodik. Ich glaube fest daran, dass die Komplexität von Führung künftig durch zwei Personen ausgefüllt werden sollte, denn die gegebene Komplexität ist nur selten in einer Person vereint.

Es braucht unterschiedliche Persönlichkeiten im Team und eine Führungskraft muss sehr agil mit den Anforderungen im Team umgehen können. Sie muss lernaffin, neugierig und bereit sein, sich fortlaufend zu informieren und eine positive Fehlerkultur zu leben. Letztendlich hat Führung viel mit Vertrauen zu tun – gerade auch in der Pflege, da Angehörige darauf vertrauen, die bestmögliche Unterstützung zu erhalten.

Die Führungskräfte müssen darüber hinaus das Spannungsfeld managen, dass es zum einen betriebswirtschaftlich gut läuft und zum anderen die Mitarbeitenden weiterentwickelt werden. Und dafür braucht es die Akademisierung der Pflege.

 

„Ich glaube fest daran, dass die Komplexität von Führung künftig durch zwei Personen ausgefüllt werden sollte, denn die gegebene Komplexität ist nur selten in einer Person vereint.“

 

Vielen Dank für das interessante Gespräch.

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