Professor Dr. habil. Martina Hasseler im Interview
© Professor Dr. habil. Martina Hasseler
Martina Hasseler ist Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin sowie habilitierte Rehabilitationswissenschaftlerin. Seit 2013 ist sie Hochschulprofessorin der Fakultät Gesundheitswesen an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften.
Dort prägt sie mit ihrer kritisch-reflektierten und analytischen Sicht- und Denkweise und ihrer offenen Haltung die innovative Lehre und zahlreiche Forschungsprojekte. Sie ist stets an neuen Erkenntnissen und Perspektiven interessiert und freut sich daher bereits darauf, nach der Pandemie wieder auch andere Länder und Hochschulen zu besuchen, um sich die Gesundheitssysteme, deren Prozesse und Funktionsweisen sowie die Zusammenarbeit, Status, Rollen und Verantwortlichkeiten der dort tätigen Berufsgruppen anzuschauen.
Von sich selbst sagt sie, dass Bewegung in jede Beziehung und auf jeder Ebene zu ihrem Leben gehöre.
Frau Professorin Hasseler, wie tragen Sie mit Ihren Forschungsaktivitäten dazu bei, die Gesundheitsversorgung zu verbessern?
Frau Professorin Hasseler: Ich widme mich explizit der angewandten und interdisziplinären Forschung in Gesundheits-, Pflege- und Rehawissenschaften mit dem Ziel, neue und systematische Erkenntnisse für eine qualitativ hochwertige gesundheitliche und pflegerische Versorgung zu erhalten und diese in die direkte Versorgung von Patientinnen und Patienten und hilfe- und pflegebedürftigen Menschen einzusetzen. Ich möchte mit meiner Forschung zu einer Verbesserung der Rahmenbedingungen von Gesundheit und Pflege sowie der berufsgruppen- und settingübergreifenden Zusammenarbeit und Qualifikation von Gesundheits- und Pflegeprofessionen beitragen.
Eines meiner Schwerpunkthemen ist die Digitalisierung der Pflege. Hier gilt es frühzeitig sicherzustellen, dass pflegewissenschaftliche und pflegefachliche Fragestellungen in die Entwicklungen digitaler Technologien integriert werden.
Darüber hinaus verdeutlichen wir mit unseren Initiativen in diesem Themenbereich, dass Entscheidungstragende sich von einem engen und inadäquaten Verständnis der Pflege leiten lassen. Leider hat sich in Deutschland die Denkweise durchgesetzt, dass die Pflegeversicherung, also das SGB XI, die Pflege sei und das Instrument zur Messung von Pflegebedürftigkeit darstelle. Das ist natürlich falsch und lenkt die gesamte Entwicklung der Pflegeberufe und Pflegewissenschaft in die falsche Richtung und zerstört nicht nur ihre Fachlichkeit, sondern auch die Frage, ob sie weiter existent sein sollten. Die Pflegeversicherung hat zum Ziel, den Pflegebedürftigen einen Pflegegrad anzuerkennen, für die Wahl definierter Leistungsarten zu sorgen, die jedoch wenig mit fachlicher Pflege zu tun haben, und die Angehörigen- bzw. Familienpflege zu unterstützen. Damit ist naturgemäß nicht die Messung von Pflegebedarfen verbunden noch ein Verständnis der Pflege definiert, das nur aus kritischen Diskursen der Pflegewissenschaft entstehen und nicht in gesetzliche Korsetts gebunden werden kann und damit kritiklos gilt. Ich betone diesen Aspekt deswegen so sehr, da die pflegewissenschaftliche Forschung offen und frei sein und sich von einem fachwissenschaftlichen Verständnis der Pflege leiten lassen muss, wenn die Ergebnisse den Patienten und Patientinnen, den Pflegebedürftigen und dem System zugutekommen sollen. Anderenfalls werden nur noch Projekte durchgeführt, die ohne wissenschaftliche Diskurse der Pflegeversicherung dienen, ohne zu wissen, ob sie in der Tat zu einer besseren Versorgung und Qualität führen.
Sollte sich die Lesart durchsetzen, die Pflegeversicherung sei jetzt die Pflege, wird damit das seit Januar 2020 bestehende Pflegeberufegesetz obsolet und alle anderen Settings wie Krankenhäuser, Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Prävention werden absolut ignoriert. Wir müssen uns verdeutlichen, wenn die Pflegeversicherung mit Pflege gleichgesetzt wird, wird die berufliche Pflege laisiert, entfachlicht und auf die Stufe der Familienpflege gesetzt. Es muss die Pflegewissenschaft interessieren, welche Auswirkungen diese nur in Deutschland vorhandene enge und oktroyierte Zuordnung bedeutet.
„Wir müssen uns verdeutlichen, wenn die Pflegeversicherung mit Pflege gleichgesetzt wird, wird die berufliche Pflege laisiert, entfachlicht und auf die Stufe der Familienpflege gesetzt.“
In der aktuellen Diskussion zum Thema „Digitalisierung in der Pflege“ wird viel über Ersatz vs. Entlastung des Pflegepersonals durch digitale Technologien im Pflegealltag gesprochen. Welchen Stellenwert nimmt aus Ihrer Sicht die Digitalisierung in der Pflege ein und wo wird die Reise hingehen?
Diese Frage setzt genau an den vulnerablen Punkten an, wenn Entscheidungstragende über Digitalisierung in der Pflege sprechen. Sie wird als eine Art Magic Box betrachtet, die alle Probleme der Pflege, vor allem den Pflegepersonalmangel kompensieren oder entlasten wird. Dabei bleibt fraglich, von was die Pflege denn entlastet werden soll? Die Entlastungsdiskussionen der letzten Jahrzehnte haben aufgrund des inadäquaten Pflegeverständnisses dazu geführt, dass die Pflegeberufe deprofessionalisiert, fragmentiert und entkernt wurden.
Wenn digitale Technologien eine unterstützende Funktion der pflegerischen Versorgung erfüllen und zu einer qualitativ hochwertigen Pflege beitragen sollen, müssen ein fachliches Verständnis der Pflege und des Pflegeprozesses zugrunde gelegt werden. Der Pflegeprozess ist eine systematische Annäherung sowie effiziente und effektive Methode, die pflegerische Praxis, das pflegerische Wissen sowie die Entscheidungsfindung für die pflegerische Versorgung zu organisieren, sodass eine individuelle und bedarfsangemessene Pflege ermöglicht wird. Die relevante Bedeutung des Pflegeprozesses wird im Pflegeberufegesetz mit § 4 Vorbehaltsaufgabe dokumentiert.
Ich habe mit meinem Team einen Ansatz entwickelt, wie der Pflegeprozess mit den Schritten Informationssammlung, Erkennen von Problemen, Festlegen der Pflegeziele und Planung des Pflegemaßes dazu dienen kann, die Entwicklung und Integration neuer digitaler Technologien so zu gestalten, dass sie die pflegerische Versorgung unterstützen. Damit neue digitale Technologien die gesundheitliche und pflegerische Versorgung unterstützen, gilt es, die Bedarfe für neue Technologien und ihre Funktionen genau zu analysieren. Die Entwicklung und das Design sollten pflegewissenschaftlich-pflegefachlich getrieben sein und zu den professionellen Handlungen, Maßnahmen und Interventionen passen und möglichst innovative Tools und datenwissenschaftliche Erkenntnisse beinhalten.
Darüber hinaus muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass mit der Digitalisierung in der Pflege nicht weniger und geringer qualifiziertes Personal benötigt wird, sondern es werden Pflegefachpersonen mit differenzierten digitalen Kompetenzen benötigt.
„Wenn digitale Technologien eine unterstützende Funktion der pflegerischen Versorgung erfüllen und zu einer qualitativ hochwertigen Pflege beitragen sollen, müssen ein fachliches Verständnis der Pflege und des Pflegeprozesses zugrunde gelegt werden.“
Auf welche(s) Forschungsprojekt(e) sind Sie besonders stolz und warum?
Ich bin auf so viele Projekte stolz, die ich gemeinsam mit meinem Team durchführe oder durchgeführt habe:
- Im aktuellen T-Nugd Programm ermöglichen wir, dass sich Pflegefachpersonen mit einem Weiterbildungsangebot auf die Digitalisierung vorbereiten können. Wir merken, dass wir damit einen Nerv treffen.
- Mit dem Projekt EIBEMEB bzw. I.D.A. haben wir ein Assessmentinstrument entwickelt, um die gesundheitlichen und pflegerischen Bedarfe von Menschen mit geistigen und mehrfachen Beeinträchtigungen berufs- und sektorenübergreifend messen zu können. Das Instrument ist digital übersetzt und kann so überall eingesetzt werden.
- Mit dem Projekt NOVELLE versuchen wir, unter Berücksichtigung individueller und in der Patientenverfügung festgehaltenen Wünsche nicht notwendige Krankenhauszuweisungen aus Pflegeheimen zu reduzieren.
- Ein weiteres Projekt beschäftigt sich damit, die pflegewissenschaftliche Perspektive bei der Einführung von Sensorbetten zu integrieren, die vom Träger mit der Hoffnung eingeführt werden, dass sich die Qualität in den Bereichen Sturz, Ernährungs- und Flüssigkeitszufuhr und Dekubitus verbessern.
Im Kontext der aktuellen Corona-Krise haben mein Team und ich ein von uns erarbeitetes pflegeinternes Delegationsmodell auf die Krankenhäuser übertragen, um den Entscheidungstragenden und den in der Praxis tätigen Pflegefachpersonen, Ärzten und Ärztinnen eine Grundlage zu bieten, auf welcher Basis und wie sie fachfremde bzw. nicht fachlich qualifizierte Personengruppen in den Kliniken in der Versorgung von Menschen auf Intensivstationen einsetzen können.
Es ist offensichtlich, dass mehr Personal für die individuelle und bedarfsgerechte Versorgung auf Intensivstationen benötigt wird. Gleichwohl ist die Versorgung von beatmeten Patientinnen und Patienten hochkomplex. Aus diesem Grunde sollte neues und fachfremdes Personal adäquat und die knappe Ressource des hoch qualifizierten Personals angemessen eingesetzt werden.
Welche Hürden gibt es bei der Umsetzung einer pflegerischen Versorgung mit digitalen Hilfsmitteln und wie können die Akteure diesen begegnen?
Die größte Hürde in Deutschland ist das bestehende enge und inadäquate Pflegeverständnis. Das führt dazu, dass digitale Tools entwickelt werden, die weder die fachliche Pflege noch den Pflegeprozess unterstützen noch verbesserte Ergebnisse erzielen werden. Eine erfolgreiche Digitalisierung der Pflege, die wirklich allen nutzen soll, muss von einem fachwissenschaftlichen Verständnis der Pflege ausgehen und darf nicht von einem Teilleistungsrecht, das Laienpflege im Fokus hat, bestimmt werden.
Derzeit sind viele neue digitale Technologien noch in der Erprobung und Explorierung. Die meisten Studien zu digitalen Technologien in der Pflege sind sehr heterogen, die Studienqualität gar nicht gut und die Evidenzlage eher schlecht. Es fehlen wirklich gute Forschungsergebnisse, die uns in der Einschätzung der Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit digitaler Technologien in der Pflege hinweisen können. Des Weiteren greifen die unendlich vielen Pflegetechnologieprojekte an so unterschiedlichen Ebenen und Ausgangslagen an, dass eine konklusive und sinnvolle Einordnung von digitalen Technologien in der Pflege und eine Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit kaum möglich ist. Ich verweise hier auf Buxbaum und Sen mit einer Publikation aus dem Jahr 2018, die auf folgende Probleme in der Entwicklung von digitalen Tools hinweisen:
- Komplexität des Gesamtsystems
- Erforderlichkeit von Bedien- und Wachpersonal
- Hohe Fehleranfälligkeit
- Problematische Bedienerschnittstellen
- Starre Beweglichkeit humanoider Robotik
- Fehlende Fähigkeit von humanoiden Robotern, autonom Entscheidungen zu treffen
- Fehlende Schutzmechanismen und problematische Anpassung der Bewegungen des Roboters in die dynamischen Prozesse der Gesundheitsversorgung in den Institutionen (Robotik kann nicht ausweichen bzw. kann umfallen).
Zudem ist zu klären, wie der verstärkte Einsatz von neuen Technologien in der Pflege wie Künstliche Intelligenz die praktische Pflege und Interaktionen mit den Erkrankten, Pflegebedürftigen und deren Angehörigen sowie anderen Fachberufen verändern wird. Schließlich bringen KI-Technologien die Notwendigkeit mit sich, die Pflegepraxis neu zu konzipieren und neue Rollen, Verantwortlichkeiten und Arbeitsabläufe zu entwickeln.
Es bleiben viele Forschungsdesiderate, von denen ich nur einige nennen möchte:
- Inwiefern werden fachliche Aspekte in der Digitalisierung des Pflegeprozesses berücksichtigt?
- Wie beeinflusst ein inadäquates Verständnis von Pflege die Entwicklung und den Einsatz digitaler Technologien und die Ergebnisse und Qualität der Versorgung?
- Inwiefern und wie beeinflussen digitale Tools, die unterschiedlich im Pflegeprozess eingesetzt werden, die Organisation und den Fokus der pflegerischen Versorgung?
- Werden die evidenzbasierten und fachlichen Erkenntnisse berücksichtigt?
- Welche Rolle spielt die standardisierte Pflegesprache in der Entwicklung von digitalen Technologien?
- Welche Auswirkungen haben die Umsetzung von computerbasierten Pflegedokumentationssystemen auf die Versorgung von Erkrankten und Pflegebedürftigen in Qualität und Outcomes?
- Unterbleiben elementare pflegerelevante Maßnahmen und Interventionen, weil die digitale Technologie beispielsweise eine falsche Prioritätensetzung lenkt, die nicht mehr hinterfragt wird? Weil Pflegephänomene nicht mehr wahrgenommen werden?
„Eine erfolgreiche Digitalisierung der Pflege, die wirklich allen nutzen soll, muss von einem fachwissenschaftlichen Verständnis der Pflege ausgehen und darf nicht von einem Teilleistungsrecht, das Laienpflege im Fokus hat, bestimmt werden.“
Welches sind die Erfolgsfaktoren für die erfolgreiche Umsetzung und worauf sollten die Akteure achten, um das Umfeld mitzunehmen?
Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor ist, dass der Pflegeprozess als Grundlage für die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien in der Pflege herangezogen wird. Es braucht eine differenzierte Analyse, welche Anteile des Pflegeprozesses durch den Einsatz digitaler Technologien die Pflege professionalisieren und verbessern.
Pflegeberufe werden durch die neuen digitalen Technologien einen transformativen Prozess erfahren: Der Wandel hin zu neuen Technologien und künstlicher Intelligenz in der Gesundheits- und Pflegeversorgung wird einen erheblichen Kompetenzwandel für die Pflegeberufe bedeuten. Wir werden Curricula für die Aus-, Fort- und Weiterbildung verändern und Pflegeinformatik in unterschiedlichen Niveaus integrieren müssen. Die Pflegeberufe müssen systematisch auf den transformativen Wandel vorbereitet werden. Pfleger und Pflegerinnen sollten die Möglichkeit haben, digitale Kompetenzen zu erwerben.
Zusätzlich muss eine standardisierte Pflegesprache für die Pflegeberufe eingeführt werden, damit auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Informationen in die neuen Technologien einfließen können.
Wenn Unternehmen neue digitale Technologien einführen möchten, ist dafür ein Implementierungs- und Change-Management-Prozess notwendig. Da die digitalen Technologien den Pflegeprozess unterstützen sollen, müssen alle Ebenen und Berufsgruppen wie auch die Pflegewissenschaft in den Entwicklungs- und Umsetzungsprozess mitgenommen werden. Es reicht nicht, einfach nur eine neue digitale Technologie im Unternehmen einzusetzen und zu hoffen, dass sie von sich aus wirkt.
Digitale Technologien müssen sinnhaft in die komplexen Prozesse der Versorgung eingebunden werden. Mangiapane und Bender beschreiben hierzu in ihrem Fachbuch „Patientenorientierte Digitalisierung im Krankenhaus“, dass ein fehlendes Verständnis der komplexen Vorgänge und Prozesse im Gesundheitswesen ein Hindernis für eine friktionsfreie digitale Transformation des Gesundheitswesens ist. Diese Erkenntnis kann man auch auf Unternehmen übertragen: Wer die Komplexität der Zusammenhänge nicht erkennt, wird neue Technologien nicht erfolgreich einführen können.
„Wenn Unternehmen neue digitale Technologien einführen möchten, ist dafür ein Implementierungs- und Change-Management-Prozess notwendig.“
Welche Chancen und Risiken erwarten Sie für mündige Patientinnen und Patienten, wenn es durch die Digitalisierung des Gesundheitswesens erfolgreich gelingt, das Sektoren- und Silodenken zu überwinden?
Die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung im System hängt u. a. davon ab, wie gut die Pflegeberufe und insbesondere auch die Patienten und Patientinnen, die Pflegebedürftigen sowie die weiteren nutzenden Personen in die Entwicklung integriert werden.
Wenn uns eine interdisziplinäre und sektorenübergreifende Entwicklung von digitalen Technologien in der Pflege gelänge, könnten die Chancen darin liegen, dass die Zielgruppen eine bedarfsangemessene sowie flexible Versorgung, psychosoziale Beratung, Gesundheitsförderung und Prävention erhalten. Die Angebote könnten niederschwellig und ortsunabhängig angeboten werden. Die an der Versorgung beteiligten Berufe könnten die gesundheits- und pflegerelevanten Informationen schneller austauschen. Mit guten Konzepten könnte es z. B. möglich sein, dass pflegebedürftige Menschen länger zu Hause bleiben können.
Die Risiken könnten darin liegen, dass der erforderliche zwischenmenschliche Kontakt, die Kommunikation und Interaktion verloren gehen. Es könnte passieren, dass nicht angemessen analysiert wird, an welchen Stellen die menschliche Begegnung immer noch erforderlich ist. Darüber hinaus ist es möglich, dass die neuen Technologien nicht sicher sind.
Ein weiteres Risiko sind die Algorithmen, die derzeit entwickelt werden. Wenn diese nicht differenziert trainiert werden und Erkenntnisse aller an der Versorgung beteiligter Personengruppen wie Informationen der relevanten Zielgruppen eingehen, kann die Gefahr bestehen, dass die Algorithmen sehr verzerrt sind und einer guten Versorgung entgegenstehen.
„Die erfolgreiche Umsetzung der Digitalisierung im System hängt u. a. davon ab, wie gut die Pflegeberufe und insbesondere auch die Patienten und Patientinnen, die Pflegebedürftigen sowie die weiteren nutzenden Personen in die Entwicklung integriert werden.“
Die Digitalisierung in der Gesundheitswirtschaft verändert den Versorgungsalltag und das Ökosystem der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Welches sind die Aspekte, die die beteiligten Akteure in Deutschland noch stärker angehen müssen, um gemeinsam ein zukunftsfähiges, digital gestütztes und patientenorientiertes Gesundheitssystem aufbauen zu können?
Für eine berufs- und sektorenübergreifende Digitalisierung im Gesundheitswesen bedarf es eines interdisziplinären Verständnisses erfolgreicher gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung, der Relevanz aller Berufsgruppen im System und deren Anteile an der komplexen Versorgung. Es sind dabei vier wesentliche Aspekte zu berücksichtigen:
- Ein neues Verständnis einer individuellen und bedarfsorientierten Versorgung,
- Die Beteiligung und Einbindung aller Gesundheits- und Pflegeberufe bei der Entwicklung zukunftsfähiger digitaler Technologien
- Die Bewältigung der neuen Anforderungen an die Pflegefachberufe
- Der Aufbau einer neuen Finanzierung gesundheitlicher Leistungen.
Wir benötigen ein ganz anderes Verständnis einer individuellen und bedarfsorientierten Versorgung, denn unser Gesundheitssystem ist sehr arztzentriert und ICD-getrieben, d. h. nur Menschen mit einer ärztlichen Diagnose erhalten Zugang zur Gesundheits- und Pflegeversorgung. Auch die Krankenhäuser funktionieren nur so.
Die Digitalisierung wird im Moment sehr monoprofessionell in Deutschland diskutiert und die gegenwärtig vorhandenen Finanzierungsströme bestimmen die Richtung der Entwicklung neuer digitaler Technologien. Da professionelle Pflege leistungsrechtlich nirgendwo abgebildet ist, besteht die große Gefahr, dass neue Technologien ohne deren Wissen und Inhalte stattfinden. Meine Sorge ist, dass die zahlreichen wichtigen Prozesse, Inhalte und Information aller anderen an der Gesundheitsversorgung beteiligten Berufsgruppen nicht integriert und die derzeitigen Zustände und Strukturen zementiert werden, denn die komplexen Prozesse vor, während und nach ärztlichen Interventionen werden derzeit nicht in die Überlegungen inkludiert.
In der Entwicklung neuer Technologien sollten die für alle Beteiligten relevanten sozialen und sonstigen Kontextfaktoren wie Autonomie, Sicherheit für die Patienten und Patientinnen oder Fairness berücksichtigt werden, denn neue Technologien sind nicht neutral. Sie implizieren Veränderungen im Verhalten oder in der moralischen, ethischen und fachlichen Bewertung von Maßnahmen und Interventionen. Zudem müssen alle Gesundheits- und Pflegeberufe für eine zukunftsfähige Entwicklung digitaler Technologien gleichwertig an der Gesundheitsversorgung und Informationsweiterleitung Anteil haben.
Im derzeitigen arztzentrierten Gesundheitssystem ist diese demokratische Teilhabe an digitalen Informationen noch nicht vorgesehen. Bei der Entwicklung neuer digitaler Technologien für die pflegerische Versorgung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, wie diese die pflegerischen Prozesse unterstützen und wie die ethisch-fachlichen sowie sozial-interaktiven relevanten Anteile professioneller Pflege integriert werden können. Wenn digitale Technologien sinnhaft in pflegerische Versorgung integriert werden sollen, müssen die verschiedenen Ebenen und Anwendenden auseinandergehalten werden, deren Bedarfe und vor allem die komplexen Prozesse der pflegerischen Versorgung genau analysiert werden. Alles andere wird sonst die in Deutschland typische Verrichtungsorientierung pflegerischer Versorgung weiter zementieren.
Neue Anforderungen an die Pflegefachberufe werden sich mit zunehmender Digitalisierung und Technologisierung ergeben, da sie vor die Herausforderung gestellt sind, digitale Tools sinnhaft in den Pflegeprozess zu integrieren. Das Pflegepersonal benötigt neben der Fähigkeit, mit neuen digitalen Technologien umzugehen, auch die Fähigkeit, diese zu verstehen und kritisch-reflektiert zu nutzen.
Pflegeberufe und Pflegewissenschaft sollten in die Entwicklung neuer Technologien integriert werden, sie mitgestalten und kritisch reflektieren. Für die Zukunft gilt es, die Pflegeinformatik weiterzuentwickeln, die Pflegewissenschaft inkludierend zu verstehen und sich dem Verständnis im internationalen Raum anzunähern.
In den USA wird Pflegeinformatik als eine Disziplin verstanden, die Pflegewissenschaft und die verschiedenen Informationen und analytische Wissenschaften integriert, um Daten, Informationen und Wissen zu identifizieren, zu definieren, nutzbar zu machen und zu kommunizieren, die für die Praxis der Pflege und einer guten pflegerischen Versorgung wichtig sind.
Pflegeberufe mit Kenntnissen in der Pflegeinformatik können an der Entwicklung von Technologien in Telemedizin und Telenursing beteiligt werden, indem sie an der Gestaltung des Designs, der Funktionalität und in der Ermöglichung der berufsgruppen- und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit mitwirken. Weiterhin ist es erforderlich, dass ihre Expertise eingeht in die Entwicklung des Monitorings und der Integration der Daten oder im Kontext von „Big Data“ in die Fütterung und das Training von Daten oder in die sinnvolle Auswertung mittels Nursing Analytics. Entsprechend wird im internationalen Raum von spezifischen Rollen digital qualifizierter Pflegefachpersonen wie „informatic nurse“ gesprochen.
Schließlich müssen die Fragen der Finanzierung gesundheitlicher Leistungen neu gedacht werden. Im Moment folgen alle Diskussionen den derzeitigen Leistungs-, Ordnungs- und Finanzierungsrechten und -strömen. Da sich die Rollen und Kompetenzen aller Berufe im Gesundheitswesen, die Organisation und Funktion verändern werden, dürfen und sollten die derzeitigen strukturellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen nicht die Digitalisierung im Gesundheitswesen prägen, sondern, wie diese in Zukunft aussehen und finanziert werden wird. Ansonsten werden die derzeitigen silohaften und wenig zufriedenstellenden Prozesse in der Gesundheitsversorgung zementiert.
„Wenn digitale Technologien sinnhaft in pflegerische Versorgung integriert werden sollen, müssen die verschiedenen Ebenen und Anwendenden auseinandergehalten werden, deren Bedarfe und vor allem die komplexen Prozesse der pflegerischen Versorgung genau analysiert werden.“
Vielen Dank für das interessante Gespräch.
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